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Juli 12, 2023

Demenz verstehen lernen: Ein Podcast über die Kraft der Beziehung

Der Umgang mit Menschen mit Demenz ist für Pflegende und Angehörige eine tägliche Herausforderung. Oft fällt es schwer, sich von den Emotionen und Handlungen der Betroffenen abzugrenzen. Diesem Problem versucht das DNQP mit einem Leitfaden zur Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz entgegenzuwirken.

Im Podcast “Pflegefaktisch” mit Francesca Warnecke spricht Maria Liehr von Mecasa über den Expertenstandard zur Beziehungsgestaltung in der Pflege, der sich an Senioren mit Demenz richtet. Sie erklären, worum es in dem Standard geht, warum er so wichtig ist, wie er in der Praxis umgesetzt werden kann und wie er Pflegekräfte und Angehörige entlastet.

Interview

Francesca Warnecke: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge Pflegefaktisch. Die Expertenstandards bzw. die Umsetzung der Expertenstandards sind immer wieder Thema in meinen Beratungssituationen, ich persönlich finde die Auseinandersetzung mit den fachlichen Inhalten super spannend. Ich sehe aber natürlich auch die Herausforderung, sich im pflegerischen Alltag mit fachlichen und auch sehr komplexen Themen auseinanderzusetzen und diese für sich auf die Praxis zu beziehen oder auch sie praxistauglich zu implementieren. Ein ganz besonderer Expertenstandard ist der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Über diesen besonderen Expertenstandard und warum er eigentlich so wichtig ist, warum es eher um das “Wie” geht anstatt um das “Was” und was das alles mit dem personenzentrierten Ansatz zu tun hat, das bespreche ich heute mit Maria Liehr. Maria ist gerontopsychiatrische Pflegekraft und hat langjährige Erfahrung im Umgang mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Diese Folge richtet sich also an alle Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis, die entweder mit demenziell erkrankten Menschen zusammenarbeiten oder die sich auch mit der Implementierung des Expertenstandards beschäftigen. Ich kann aber auch schon mal sagen, dass es auch super spannend für alle anderen Hörerinnen und Hörer ist, denn die Folge ist eben was Besonderes, denn wir sprechen auch über die Funktion einer Beziehung und im Endeffekt auch über die Reflektion der eigenen Haltung. Maria, herzlich willkommen zurück im Podcast hier bei Pflegefaktisch. Einige kennen dich ja bestimmt schon aus der Folge 14 mit dir und Oliver Weiss von Mecasa. Da haben wir auch schon einmal über euer Betreuungsangebot gesprochen. Ihr vermittelt nämlich die richtige Betreuungskraft an den richtigen Senior oder an die richtige Seniorin. Da kannst du ja vielleicht gleich noch zwei Sätze dazu sagen. Bevor wir dann Einsteigen in die Thematik einmal noch mal kurz zu dir: du bist examinierte Altenpflegerin und hast die Weiterbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft und zur verantwortlich leitenden Fachkraft gemacht und du hast ganz viel Erfahrung aus dem stationären Bereich und in der Beratung und Schulung von Angehörigen. Was ist denn jetzt genau dein Aufgabenfeld bei Mecasa und was haben deine Aufgaben denn eigentlich mit dem Expertenstandard Demenz zu tun?

Maria Liehr: Hallo Francesca, vielen Dank für die Einladung und dass wir heute den Podcast zusammen machen können. Auch danke für die Vorstellung. Das ist korrekt so und meine Aufgabe bei Mecasa ist jetzt tatsächlich sehr viel Beratung von Angehörigen und auch von Betroffenen selbst. Wir vermitteln Betreuungskräfte aus Osteuropa und dazu gehört eben auch eine fachliche Beratung am Anfang: ist es überhaupt möglich, dass eine Pflegesituation durch eine osteuropäische Betreuungskraft sichergestellt wird, also ist das zu verantworten? Dann spielt sich vieles auch im laufenden Pflegeprozess ab und da fällt es eben auf, dass das Thema Demenz eine sehr, sehr große Rolle spielt. Oft melden sich Betreuungskräfte oder die Angehörigen und sagen, der Senior zeigt dies oder jenes Verhalten, was eben durch eine Demenz bedingt ist und wir kommen nicht weiter. Und da ist dann viel Fachwissen gefragt und dadurch bin ich sehr oft mit dem Thema konfrontiert.

Francesca Warnecke: Deswegen finde ich das auch so super, dass wir jetzt zusammen sprechen, weil es eben ja auch deine tägliche Arbeit ist. Warum benötigt es denn diesen Expertenstandard für die Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz?

Maria Liehr: Demenz ist ja ein Thema, was das ganze Land bewegt, also die Zahl der Erkrankten steigt immer weiter an und sehr viele Menschen sind damit in Kontakt und fragen sich eben, wie kann ich mit dem Menschen mit Demenz gut umgehen? Es ist egal, ob das in der stationären Pflege ist, im ambulanten Bereich oder generell in der Gesellschaft. So wie ich das aus dem Standard rauslese, hat sich das DNQP Gedanken gemacht, welches Thema wählen wir, um die Lebensqualität von Menschen mit Demenz wirklich substanziell zu verbessern. Also das ist so die Aufgabenstellung, die sich das DNQP gestellt hat und damit sind sie auf dieses Thema gekommen. Es ist ein wirklich besonderes Thema, weil es eben Lebensqualität in einem ganz deutlich globaleren Sinne in den Mittelpunkt stellt, als das alle anderen Expertenstandards zuvor getan haben. Also bei den anderen Standards ging es immer darum, wirklich klar definierte Ziele zu erreichen. Zum Beispiel: es soll kein Dekubitus entstehen oder Senioren sollen nicht stürzen. Diese Dinge sind alle sehr wichtig, aber hier geht es jetzt um was ganz anderes. Also es geht um Beziehungen und wie gehe ich zu einem Menschen mit Demenz eine Beziehung ein und das hat eine ganz andere Dimension. Was besonderes an dem Standard ist, dass es uns als Pflegekräfte auch in einer nie dagewesenen Weise auf den Prüfstand stellt. Also wir müssen uns reflektieren, wir müssen sehen wie verhalten wir uns, wie wirkt es auf den anderen. Wir stehen sozusagen nicht nur als Pflegekräfte, sondern auch als Menschen in unserem ganzen Sein auf der Bühne und das ist schon wirklich sehr spannend.

Francesca Warnecke: Ja, genau das macht es aus und deswegen finde ich den Standard auch so spannend, aber ich finde den auch sehr schwer, um ehrlich zu sein. Weil es keine klar definierte Skala ist, kein klar definiertes Ziel, das man bearbeiten muss, sondern das sind ja weiche Faktoren: was ist denn eigentlich eine Beziehung oder was heißt denn eigentlich Beziehungsgestaltung und warum ist das gerade insbesondere im Umgang von Menschen mit Demenz so wichtig?

Maria Liehr: Ich würde gerne noch mal auf das erste was du gesagt hast zurückgehen, also dieser Standard, der ist wirklich sehr schwierig. Ich habe da sehr lange dran gesessen, um den den für mich zu erarbeiten. Ich sage auch nicht, dass alles was ich jetzt sage eins zu eins das ist was da steht, ich kann auch nur das sagen was ich rauslese und verstehe. Also man muss sich intensiv mit dem Standard beschäftigen, aber wenn man ihn sich für sich selbst übersetzt hat, dann gibt es wirklich eine sehr gute Hilfestellung mit einzelnen Fragen. Das Thema Beziehung, was bedeutet Beziehung für mich: also ich habe es so verstanden, Beziehung heißt für mich ich gehe in Kontakt mit einem anderen Menschen und zwar mit meinem ganzen Sein, also mit meiner ganzen Person und mit allem was zu mir gehört. Nicht nur indem ich eine pflegerische Tätigkeit durchführe, sondern mir auch da bewusst zu sein, wirklich was mich alles ausmacht. Ich habe das in meinen Fortbildungen immer mit dem Eisbergmodell verglichen: Worte, also das was so auf der kognitiven Ebene vermittelt wird das sind fünf bis sieben Prozent und alles andere ist, meine Stimmung, meine Haltung und meine Körperhaltung. Da schwingen natürlich auch meine Werte und meine Erfahrungen und mein ganzes Leben mit. Und das hat bei Menschen mit Demenz natürlich auch auf eine ganz andere Weise eine Bedeutung. Beziehungsgestaltung heißt nach dem Standard eben in Beziehung gehen, in Kontakt sein und das ganz aktiv zu gestalten. Also das nicht einfach geschehen lassen und ich reagiere auf das, was mir angeboten wird, sondern ich mache das ganz aktiv und reagiere auch reflektiert darauf, was der Mensch mit Demenz an mich sendet. Der Expertenstandard spricht von leiblicher Kommunikation, was ich eine sehr schöne Ausdrucksweise finde. Das verdeutlicht, ich gehe auch mit meinem Körper, mit meiner Seele und mit allem, was ich bin, in Kontakt.

Francesca Warnecke: Ja, das stimmt. Als ich angefangen habe mich mit dem Expertenstandard auseinanderzusetzen war es so ein bisschen der Aha-Effekt als ich darüber nachgedacht habe, was ich denn für eine Reaktion oder Interaktion von meinem Gegenüber erwarte. Da ist es mir dann wie Schuppen von den Augen gefallen, weil ich immer eine bestimmte Reaktion erwarte, aber bei Menschen mit Demenz reagieren diese einfach anders, weil sie gar nicht mein Signal oder meine Kommunikation verstehen. Ich bin dann als Pflegekraft oder als Person auch tatsächlich überfordert, weil ich gar nicht damit rechne, welche Reaktionen jetzt von meinem Gegenüber kommt. Ich glaube, das ist auch der Schlüssel zu verstehen, dass ich nicht mit einer vorgefertigten Meinung in einer vorgefertigten Reaktion mit einem Menschen mit Demenz umgehen kann.

Maria Liehr: Genau, ich denke was da wirklich hilfreich sein kann, wenn ich so eine Reaktion bekomme mit der ich gar nicht gerechnet habe ist, dass ich mir im vornherein in Kopf rufe, dass der Mensch mit Demenz wahrscheinlich mehr auf meine Körpersprache und auf meine Stimme reagiert, als auf das was ich sage. Gleichzeitig ist es natürlich auch so, dass wir davon ausgehen, dass der Mensch mit Demenz auch seine Lebensthemen von früher aufarbeitet und dass er sich mit seinem gelebten Leben beschäftigt. Da können natürlich auch Sachen hochkommen wie, dass da Gefühle entstehen oder jetzt aufgedeckt werden, die lange Zeit nicht gelebt werden konnten. Diese Gefühle haben aber gar nichts mit mir zu tun. Das löst aber oft eine Reaktion aus, wo ich völlig ratlos und sprachlos bin, was ich jetzt falsch gemacht habe.

Francesca Warnecke: Wenn wir jetzt nochmal über die Beziehungsgestaltung sprechen ist eine ganz bekannte Theorie der Beziehungsgestaltung von Tom Kitwood. Welche Rolle spielt denn da der Ansatz von Tom Kitwood und wie ist das genau mit dem personenzentrierten Ansatz, also kannst du uns das erklären?

Maria Liehr: Also, es gibt verschiedene personenzentrierte Ansätze und sie haben gemeinsame Bezugspunkte. Der amerikanische Psychologe Rogers hat die klientenzentrierte Psychotherapie begründet und auf den beruft sich zum Beispiel auch Naomi Feil. Wenn man in der Pflege von personenzentrierten Ansätzen spricht oder von personzentrierter Pflege ist in der Regel Tom Kitwood gemeint. Er ist in England 1937 geboren, hat dann auch erst im Verlauf seiner Karriere Psychologie und Soziologie studiert, war dann Professor an der Uni in Bradford und ist dadurch mit verschiedenen Projekten bezüglich Demenz in Kontakt gekommen und hat den personenzentrierten Ansatz begründet, beziehungsweise ihn in eine klare Form gebracht. Was mir gefällt ist, dass personenzentrierte Pflege bedeutet, seine Mitmenschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte und das kann ich auf Menschen mit Demenz übertragen. Er hat diese Sichtweise immer vom Menschen auszugehen, also immer den Blickwinkel der Person mit Demenz einzunehmen und davon ausgehend zu überlegen. Unsere Sichtweise ist sehr Defizitorientiert also wir sagen zum Beispiel jemand läuft die ganze Zeit unruhig im Gang hin und her. Ich muss überlegen was hat der Mensch für ein Bedürfnis was treibt ihn an, warum macht er das. Hat er Angst und ist vielleicht deshalb unruhig und will mich damit gar nicht nerven. Solche Ursachen kann ich oftmals herausfinden und das ist der personzentrierte Ansatz, beidem der Mensch im Mittelpunkt steht. Er hat zudem die Aussage geprägt: “ vom Mensch mit Demenz zum Mensch”. Oft wird Demenz zum einnehmenden Problem und der Mensch rückt in den Hintergrund. Tom Kitwood fokussiert sich auf den Mensch und was wichtig für ihn ist, was hat er für Bedürfnisse und was wünscht er sich. Indem ich das tue, kann sich auch sein Verhalten ändern. Also vielleicht ein kleines Beispiel aus meiner stationären Zeit: eine Frau läuft im Gang hin und her, ist sehr unruhig und kommt alle fünf Minuten und fragt: “Schwester wissen Sie wo ich hier bin, ich ich weiß gar nicht was ich machen soll, können Sie mir helfen und und wissen Sie wo meine Kinder sind”. Das kennen alle aus der Praxis und natürlich kann ich ihr sagen: “Ja, sie sind hier im Altenheim und ihre Kinder sind xy”. Das kann ich ihr sagen, aber allein mit dieser Aussage kann sie nichts anfangen. Ich muss dahinter gucken, was treibt sie denn an, warum kommt sie denn immer? Dann komme ich vielleicht drauf: oh ja, da ist die Demenz und eine große Unsicherheit. Sie ist sich ihrer selbst nicht sicher und da kommt auch diese Beziehungsgestaltung wieder ins Spiel. Menschen mit Demenz brauchen ihr Gegenüber um sich selbst zu spüren und zu wissen, wer sie sind. In diesem Fall jetzt habe ich das Bedürfnis gesehen die Frau braucht Sicherheit und Vertrauen, sie braucht kontinuierliche Nähe und dieses Gefühl: sie sind hier richtig und wir wissen was zu tun ist, ich bin hier und ich bin für Sie da. Dann kann ich ihr zwar die gleichen Worte sagen aber indem ich mit ihr so kommuniziere, dass ich auf Augenhöhe bin, dass ich in Körperkontakt gehe, dass ich ihr ganz klar sage ich bin für sie da, ich kenne mich aus, ich biete Ihnen eine positive Beziehung an, in dem Moment wird dieses Bedürfnis befriedigt und dann kommt sie vielleicht nur noch alle zehn Minuten oder nur alle 15 Minuten. Ich habe hier über das Gefühl mit ihr kommuniziert und sie hat gesehen, dass ihr Bedürfnis nach Sicherheit und nach Geborgenheit anerkannt wird. Das ist so ein kleines Beispiel, wo man diesen personenzentrierten Ansatz erklären kann. Also da kann man natürlich noch sehr viel mehr dazu sagen, aber dieses Konzept vom Mensch im Mittelpunkt entspricht dem Grundgedanken von Kitwood. Mensch sein hat nicht nur etwas mit Kognition zu tun, also dieses: “Ich denke, also bin ich”, ist noch sehr verbreitet und hat einen sehr hohen Stellenwert. Er sagt aber, Person sein macht noch viel mehr aus, also auch wenn ich nicht mehr kognitiv so bin wie alle anderen, kann ich ein lebenswertes Leben führen, weil eben Bindung eingebunden und gelebt zu haben alles Dinge sind, die auch Person sein ausmachen.

Francesca Warnecke: Ja, ich finde das hast du sehr gut erklärt, weil es einem nochmal bewusst wird, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung ist. Es passiert schnell die Person, die an Demenz erkrankt ist, in so eine Schublade zu schieben. Wenn ich den personenzentrierten Ansatz verinnerlicht habe und auch diese Haltung als Pflegekraft einnehme, ist es dann das Ziel zu gucken, wie ich mit der Person umgehen kann, um sie eben da abzuholen. Eine Frage diesbezüglich ist: wo steht sie und kann ich bereits genutzte Maßnahmen übertragen? Ein Beispiel das in diesem Rahmen häufig besprochen wird ist wenn ich morgens ein Bewohner oder eine Bewohnerin in der Versorgung habe und feststelle wenn ich die Lieblingsmusik abspiele,dann ist diese Person sehr ruhig und die Körperpflege kann ein bisschen selbst oder mit Anleitung stattfinden. Jetzt stelle ich fest, dass bei dieser Person Musik funktioniert, die reagiert da drauf und das ist irgendwie eine gute Maßnahme. Jetzt sind wir beim Essen und die Person möchte nicht essen oder hat irgendwie Widerstände zum Essen und ich denke: aha aus der Erfahrung heraus mit der guten Musik, die ich bei der Körperpflege angewendet habe, spiele ich auch Musik ab beim Mittagessen oder beim Abendessen ab. Eigentlich ist es aber völlig kontraproduktiv, weil Musik in dem Moment diese Person noch mehr in den Rückzug bringt oder sie noch mehr in ein herausforderndes Verhalten bringt. Also, wie finde ich heraus, welche Maßnahmen können übertragbar sein oder welche Maßnahmen funktionieren? Hast du da Tipps oder Tricks?

Maria Liehr: Also der Expertenstandard zeigt klar, es braucht ein Bündel an Maßnahmen und es müssen auch Maßnahmen für fluktuierende Zustände geplant werden. Das ist natürlich eine große Herausforderung, da individuell auf den Senior zu achten. Es kann nämlich nicht nur sein, dass Musik in der Früh funktioniert und mittags nicht, sondern es kann einfach auch sein, dass eine Maßnahme bei der einen Pflegekraft funktioniert und bei der anderen eben nicht. Das ist eigentlich noch typischer, dass es heute geht und morgen geht es um die gleiche Tageszeit in der gleichen Situation nicht. Das ist auch das worüber ich mir bei Demenz bewusst sein muss: es gibt fluktuierende Zustände und der Mensch wechselt auch manchmal die Zeiten in denen er lebt, er ist viel emotionaler weil er das nicht mehr kognitiv steuern kann und dadurch sind auch seine Reaktionen anders. Darauf muss ich mich einstellen können als Pflegekraft und da gibt es keine Patentlösung. Ich denke das Wichtige ist, dass dieses Wissen bei den Pflegekräften ankommt und dass sie auch nicht denken, dass sie was falsch gemacht haben, wenn es nicht auf Anhieb funktioniert. Ich bin einfach immer auf der Suche und muss mich einfühlen, was dem Senior heute gut tut und um zu sehen, was funktioniert und was nicht.

Francesca Warnecke: Okay und wie sollen Einrichtungen jetzt vorgehen, um den Expertenstandard zu implementieren, also wie würdest Du ganz konkret den Einrichtungen Tipps und Tricks an die Hand geben, um diese ganze Beziehungsgestaltung auch in die Praxis zu implementieren. Es ist ja eben keine Checkliste und ich glaube das ist auch noch mal so ein bisschen die Herausforderung bei dem Expertenstandard.

Maria Liehr: Das ist wirklich eine sehr große Herausforderung, wobei es sicher Einrichtungen gibt, die schon lange danach auch arbeiten. Es gibt sicher auch nicht wenige Einrichtungen, die sich nur mal einordnen müssen, wie weit sie schon sind und was sie noch verbessern können. Generell denke ich das zentrale ist eine Schulung von den Mitarbeitern, also von allen Mitarbeitern, die an der Pflege beteiligt sind. Es müssen natürlich auch die Rahmenbedingungen gegeben sein, also es muss auch eine personenzentrierte Mitarbeiterführung da sein und es müssen personelle zeitliche Ressourcen da sein. Das ist alles dieser Rahmen, der gegeben sein muss, sonst wird es schwierig. Wenn ich jetzt so ganz konkret über den Standard spreche, würde ich eine Schulung für alle Mitarbeiter anbieten, vielleicht auch verschiedenen Levels, diese immer wiederholen und auffrischen und dann vielleicht mit einer Person aus dem Wohnbereich anfangen, mit der es vielleicht Schwierigkeiten gibt. Dann gehe den Expertenstandards durch und schaue was er für Vorlieben hat, für Abneigungen, ich schaue in seine Biografie, schaue was ich da für Daten habe und dann will ich diese Verstehenshypothese bilden. Der Standard regt an, dass wir für Menschen mit Demenz eine Verstehenshypothese bilden und die gliedert sich auch darin: wie erlebt die Person sich selbst, andere Menschen und ihre Welt. Das ist finde ich eine unheimlich hilfreiche Frage also zu sagen wenn ich mich jetzt in den Menschen reinversetze herauszufinden, wie die Person sich fühlt, ob sie Schmerzen hat, unsicher ist weil sie sie nicht weiß wo die Kinder sind und daraus dann das entsprechende Verhalten resultiert. Das ist für die Pflegekräfte wichtig, dass der Senior sich nicht so verhält, um mich zu ärgern oder mir den Tag schwer zu machen, sondern er hat einen Grund. Ich denke, wenn das angekommen ist, dann verändert sich das eigene Verhalten. Wenn ich meine Einstellung ändere, dann habe ich einen Boden geschaffen, um diesen Standard als wirklich hilfreiches Instrument zu sehen und nicht noch als was, was mir noch mehr Bürokratie bringt. Ich hatte tatsächlich in einer Einrichtung eine Schulung dazu gehalten, wo wir den Standard erstmals besprochen haben und wir haben dann auch im zweiten Teil wirklich praktisch gesagt: wir suchen uns mal eine Bewohnerin aus mit der ihr Probleme habt und haben das wirklich zusammen erarbeitet. Ich wusste vorher auch nicht was da rauskommt aber den Mitarbeitern ist tatsächlich ein Licht aufgegangen. Da ging es um sehr depressives Verhalten von einer Frau und die Mitarbeiter haben immer gesagt: “Aber draußen scheint doch die Sonne und so schlimm ist es doch nicht und anderen geht es noch viel schlimmer”. Dann haben wir ein bisschen in die Lebensgeschichte geschaut und die Frau hat nach es nach unserer Theorie gebraucht, dass die Pflegekräfte sagen: “Ja stimmt, es ist gerade wirklich super schwierig für sie”. Tatsächlich hat dieses Umdenken auch eine Verhaltensänderung bei dieser Person bewirkt und ich denke, solche Erlebnisse sind entscheidend bei der Implementierung. Das ist viel wichtiger als, dass ich diesen Standard jetzt wirklich Buchstabe für Buchstabe umsetze, weil das natürlich eine riesige Herausforderung und jetzt in Zeiten von Corona weiß ich nicht, welche Einrichtung da die Ressourcen aufbringen kann. Ich weiß nicht ob das umsetzbar ist für alle Einrichtungen, aber das wäre jetzt mal so eine Idee und so würde ich vorgehen. Je nachdem wie die Ressourcen sind, ganz viele Schulungen machen, Supervisionen, Fallbesprechungen und im Rahmen von Dienstbesprechungen das Thema aufgreifen. Ich denke auch die Verstehenshypothesen können nicht von einer Person im Hinterzimmer gebildet werden. Es ist sicherlich hilfreich, wenn da auch jemand von außen kommt, weil er einfach einen anderen Blickwinkel hat.

Francesca Warnecke: Ja, ich muss mich auch richtig damit auseinandersetzen, das stimmt. Stichwort Evaluation, vielleicht können wir da noch zwei Sätze sagen. Aus Qualitätsmanagement-Sicht muss ja irgendwie alles immer messbar gemacht werden oder auch überprüfbar und Evaluation ist auch ein ganz wichtiges Thema. Jetzt hast du schon die Verstehenshypothese erwähnt, jetzt nochmal die Frage wäre das denn tatsächlich auch ein Instrument um zu evaluieren oder wie würdest du jetzt bei der Evaluation vorgehen? Würdest du über die Maßnahmen gehen oder würdest du über die Verstehenshypothese gehen?

Maria Liehr: Also ich denke, das kann ich nur durch eine Beobachtung des Menschen mit Demenz evaluieren. Der Standard nennt das eine Kriterien gestützte Evaluation vor und gibt da schon auch Hilfestellung. Also ich kenne das auch so, dass wir früher immer viel von Wohlbefinden gesprochen haben, bei Menschen mit Demenz oder auch ohne Demenz. Dann habe ich auch meine Schüler gefragt: wie stellt ihr denn fest dass es den Menschen gut geht, weil wenn ihr ihn fragt, ist die Aussage vielleicht nicht so ganz umfänglich richtig bzw. aussagekräftig. Der Standard gibt die Kriterien vor angefangen sicherlich mit den Aussagen der betroffenen Senioren. Natürlich ist es wichtig, wenn ich jemanden frage, wie geht es Ihnen und er sagt mir aus ganzem Herzen, wie er sich fühlt das wörtlich zu dokumentieren und das auch immer wieder. Aber zudem sollten auch Aussagen von Angehörigen vermerkt werden, die natürlich ihre Senioren sehr gut kennen und die das gut beurteilen können: fühlt er sich wohl, hat er sich hier eingelebt, fühlt er sich gesehen und anerkannt oder verkümmert der Mensch. Das ist so das eine und dann natürlich Beobachtungen inwieweit ist der Mensch aktiv, wie weit ist er eingebunden in der Gruppe, wie pflegt er Kontakte und Beziehungen zu anderen, wie geht er mit mir in Interaktion, ist ein Lächeln da, hat er eine positive Ausstrahlung, wie ist es mit Unruhe, kann er sich entspannen, kann er schlafen, kann er in Ruhe essen und trinken usw. All’ diese Sachen kann man mit den Mitarbeitern zusammen erarbeiten, diese Kriterien untersuchen und anhand dessen kann man das Verhalten des Seniors sehr gut evaluieren. Wir sind ja in Zeiten der Entbürokratisierung, also wir möchten mit diesem Expertenstandard nicht wieder irgendwelche ganz großen Dokumentationsgebilde aufbauen und ich denke das ist was was ich durchaus auch in den Pflegebericht kurz reinschreiben kann. Dabei ist es eben wichtig nicht einfach nur zu sagen, es geht ihm gut, sondern was hat er denn gesagt, welche Aussagen hat er getroffen, wie ist seine Interaktion, spricht er mit anderen, wie ist seine Bewegung und Aktivität. Diese Sachen kann ich schon ziemlich ziemlich klar erkennen und dokumentieren. Die Evaluation ist meiner Meinung nach gar nicht so schwierig, sondern es ist eher herausfordernd, die Verstehenshypothese zu bilden und dann auch wirklich danach zu handeln, auch wenn ich Zeitdruck habe. Man kann oft beobachten, dass Menschen mit Demenz aggressives Verhalten zeigen und das bringt in mir auch wieder eine Reaktion, dass ich aufgeregt bin, dass ich mich irgendwo persönlich angegriffen fühle und das geht sehr schnell und auch wenn wir eigentlich wissen, dass wir das nicht wollen. Dieses Gefühl spiegele ich wieder dem Anderen und in dem Moment wo ich das reflektieren kann und wo ich mich davon abgrenzen kann und weiß es hat nichts mit mir zu, dann kann ich ruhiger bleiben und dann kann sich der Mensch mit Demenz auch wieder entspannen. Das sind so diese Knackpunkte in dem Standard, also wie gehe ich in Kontakt und wie reflektiere ich mein Verhalten.

Francesca Warnecke: Ich glaube, ich muss mir auch nichtsdestotrotz bewusst sein, dass es keine lineare Linie ist, die nur nach oben geht, sondern, dass es immer mal wieder Höhen und Tiefen gibt. Also ich glaube, das ist auch noch mal so für mich ein Aha-Effekt in der Auseinandersetzung und, dass ich eben keinen Faktor habe, den ich entweder nach oben oder nach unten korrigieren kann, sondern es sind Schwankungen dabei. Ich glaube, das ist auch noch mal für mich oder aus Qualitätssicht wichtig zu sagen und man muss immer wieder neu schauen, welche Maßnahmen ich daraus ableiten könnte.

Maria Liehr: Auf jeden Fall und da auch eben vielleicht auch gar nicht so mit besser und schlechter denken. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass Menschen mit Demenz auf ihrem letzten Lebensweg sind. Das können noch zehn Jahre sein, aber das kann auch deutlich kürzer sein. Naomi Feil sagt, der Mensch strebt danach, in Frieden zu sterben. ‘Gut’ muss also nicht heißen, dass der Senior immer super gut drauf und es ist immer alles bestens ist. Es kann auch gut oder hilfreich sein, wenn mal jemand weint oder wenn mal jemand wirklich seine Wut rauslassen kann und in dem aber gesehen wird. Es ist okay, dass die Person traurig ist und danach kann es auch wieder besser werden. Ich bin als junge Pflegekraft mit dem Anspruch an mich gestartet, dass ich dafür verantwortlich bin, dass es den Leuten gut geht. Das ist natürlich ein riesiger Anspruch. Dieses Wissen “Ich tue was ich kann, aber ich bin nicht verantwortlich, dass diese Menschen rund um die Uhr glücklich sind”, ist sehr wichtig. Ich glaube, viele Pflegekräfte leiden auch daran, dass sie den Leuten nicht gerecht werden können. Ich habe das auch getan, bis ich irgendwann auch zu dem Punkt gekommen bin zu wissen: “Ja ich muss auch nicht alles tun, es reicht auch wenn ich es so gut wie möglich habe”. Ich kann natürlich immer den Anspruch haben es zu verbessern und zu verfeinern aber trotzdem werde ich es nie perfekt können und nie mit allen perfekt können. Das ist auch sowas was sehr entspannend sein kann im Umgang mit Menschen mit Demenz, weil ja auch ein Anspruch aus dieser personzentrierten Haltung ist Kongruenz. Also diese Person zu zeigen, die ich wirklich bin und wenn ich einfach furchtbar genervt und gestresst bin und ich sage zu dem Menschen mit Demenz: “Alles ist gut”, dann ist es mit den ganz offensichtlich eine Lüge. Der Senior erkennt das und dann sollte ich lieber sagen: “Oh ich habe jetzt keine Zeit”. Ich kann jetzt natürlich nicht immer sagen, aber es ist meistens besser, sich ein Stück weit zu zeigen und ehrlich zu kommunizieren.

Francesca Warnecke: Ja, da sind wir wieder dabei, über die eigene Haltung zu sprechen und über den personenzentrierten Ansatz als Mensch oder als Pflegekraft. Ich glaube, das ist ein guter Abschluss, dass ich auch als Pflegekraft so sein darf wie ich bin und auch sagen kann oder auch muss, wenn es mir mal nicht gut geht. Oder generell meine Ansprüche ein bisschen runterschrauben, da es nicht allen gerecht machen kann.

Maria Liehr: Ja, das kann sehr entlastend sein.

Francesca Warnecke: Ja, das glaube ich auch. Wir haben heute nochmal super viele Tipps mitgegeben und genauer über den Expertenstandard gesprochen. Ich glaube, das ist tatsächlich auch sehr hilfreich für alle, die sich vielleicht auch noch mal da auf den Weg machen, in die Umsetzung zu gehen oder auch in Implementierung. Vielen lieben Dank, liebe Maria für dieses wunderbare Gespräch und ich denke wir hören wieder voneinander.

Maria Liehr: Ja, vielen Dank auch dir und es wäre sehr schön, mit dir zu sprechen.